Wir schreiben das Jahr 2005
Es ist Donnerstag, der 5te Oktober. Wir befinden uns in einer Stadt in Westfalen. Immer noch streichelt die Abendsonne dem Betrachter warm das Gesicht und bietet ihm ein liebreizendes Farbschauspiel von gelb und orange bis hin zum tiefen dunkelrot, welches das bevorstehende Ende dieses herrlichen Altweibersommertages unmißverständlich ankündigen will.
Die Straßencafe´s und Biergärten sind voll, viele Mädels haben immer noch so wenig an, daß mancher Mann reinbeißen möchte.
Grünweiße Vectras cruisen gemütlich 'rum, die Ordnungshüter am Steuer kauen eher gelangweilt auf ihren Royal TS und fingern verträumt nach den Pommes, die zwischen die Sitze gefallen sind.
Eigentlich eine völlig normale westfälische Stadt.
Aber irgend etwas - ein unbestimmbares, virusartiges, unerklärliches Ding - vielleicht ein Lichtsignal aus einer fernen Galaxie oder ein Bündel Gammastrahlen aus dem Schleiernebel oder auch der von einem Königspudel um 0:12 Uhr nachgeahmte Balzruf des Rentiers - irgend etwas sehr merkwürdiges fällt in der nun folgenden Nacht einen der Einwohner dieses friedlichen Städtchens an.
Wir landen am nächsten Morgen unseren unsichtbaren Hubschrauber einfach mal in der Fußgängerzone und werden Augenzeuge der erheblichen Folgen dieser nächtlichen Einwirkungen.
9:03 Uhr
Für Helga Z. ist es ein ganz normaler Morgen als Kassiererin bei LEDI. Vorhin, kurz nachdem dieser ekelhafte Wecker Für 29,80 ("Bitte bevorraten sie sich") sie von dem Alptraum befreit hatte, der Marktleiter würde sie mit Spekulatius füttern bis sie platzt, zog sie den Lidstrich an ihren Augen nach und machte sich frisch, äh, schluckte zwei Fisherman´s friends. Sie hatte diesen Marktleiter, Burkhard F., eigentlich nie so richtig gemocht; denn er war ein sehr grober Mensch. Und nach der Mittagspause hatte er immer eine Bierfahne. Und ihre neue Frisur war ihm auch noch nicht aufgefallen. Und jetzt - was war das? Mit einem wehenden weißen Kittel stürmt er Batmangleich von der Lagertür bis zum Waschmittelbereich neben der Kasse und schreit mit ausgefranster Zunge: "Diiiese 5 Paletten Lebkuchen und Spekulatius kommen sofort in den Eingangsbereiiiiiiiiiiiiiiiiiiiich!!!"
Auf der anderen Straßenseite reagiert EROTIC-LAND Geschäftsführer Holger B. nach einer Schrecksekunde zunächst eher halbherzig und kalkuliert die Preise für Tannenzweige voller Kondome. Als er jedoch durch die Jalousie Helga Z. beobachtet, wie sie fluchend Spekulatiuspackungen auftürmt, erkennt er den Ernst der Lage.
Er führt ein sehr teures Ferngespräch.
12:23 Uhr
Holger B. ruft bei Minipreis an und bestellt 2 Paletten Marzipankartoffeln.
12:27 Uhr
Minipreis-Marktleiterin Irina Schulze-T. ruft Holger B. an und fragt, was er mit den Marzipankartoffeln vorhat.
Holger B.'s Ankündigung, den Stammkunden kleine Dolly Buster-Engel mit 2 angeklebten Marzipankartoffeln zu schenken, löst in der gesamten Fußgängerzone den Alarm aus.
Von nun an überschlagen sich die Ereignisse.
13:03 Uhr
Minipreis-Marktleiterin Irina Schulze-T. schmückt persönlich die Wurst- und Käsetheke mit Tannenzweigen und Lametta.
13:05 Uhr
Seit der Mittagspause tragen alle SCHLECKER-Mitarbeiter rote Mäntel. Die Forderung nach weißen Bärten läßt sich mit Blick auf den knappen Wattevorrat zunächst nicht realisieren.
13:07 Uhr
MARKTKAUF und SPAR sind von der Entwicklung völlig überrascht und fordern ein Weihnachtsstillstandsabkommen bis zum nächsten Tag. Die Gespräche bleiben ohne Ergebnis.
14:02 Uhr
Im Eingangsbereich von KLINGENTHAL bezieht überraschend ein Esel mit Rentierschlitten Stellung. Gleichzeitig sind 27 Mitarbeiter eines Elektriker-Notdienstes emsig damit beschäftigt, an der Kaufhausfassade 2600 Elektrokerzen zu installieren.
Die benachbarten Geschäfte sind geschockt, können aber zunächst nur ohnmächtig zuschauen.
14:33 Uhr
MARKTKAUF setzt Krippenfiguren ins Gemüse.
14:52 Uhr
SPAR kontert mit massivem Einsatz von Rauschgoldengeln im Tiefkühlregal.
14:57 Uhr
EROTIC-LAND Geschäftsführer Holger B. ordert 8 Euro-Paletten mit Marzipankartoffeln. Unterdessen stolpern auf dem Weg zu den Videokabinen viele Kunden über die in dem schummrigen Licht nur schwer auszumachenden Tannenbäume.
15:23 Uhr
Neue Dienstanweisung bei DANY: An den Wurst- und Käsetheken wird ab sofort
ein ' f r o h e s F e s t ' gewünscht.
Daraufhin kündigt KLINGENTHAL für den weiteren Nachmittag Vergeltungsmaßnahmen an.
16:02 Uhr
Der erste Geschäftsführer des KAUFHOF ´s läßt Kunstschnee in die Schaufenster kippen.
16:13 Uhr
In einer eilig einberufenen Krisenversammlung der Werbegemeinschaft fordert die aufgebrachte Vorsitzende Tanja H. von allen Anwesenden lautstark: "Weihnachten bis zum Äußersten". Sie gibt zu erkennen, daß Sie im weiteren Verlauf des Tages in ihrem Laden auch vor dem Einsatz der von der Konkurrenz gefürchteten CD: "Weihnachten mit den Wildecker Herzbuben" über Deckenlautsprecher nicht zurückschrecken wird.
16:27 Uhr
Anwohner halten die von MARKTKAUF per Außenlautsprecher übertragene CD: "Heiligabend mit den Flippers" für eine Wahlkampfveranstaltung der grauen Panther. Nur das Foto von dem Spitzenkandidaten im roten Mantel macht sie zunächst stutzig.
16:31
EROTIC-LAND Geschäftsführer Holger B. installiert aus Trotz auch einen Außenlautsprecher und spielt nur noch die CD: "süßer die Glocken nie klingen".
16:43 Uhr
Auf dem Polizeirevier meldet sich die Diabetikerin Anna K. und gibt zu Protokoll, sie sei soeben auf dem LEDI-Parkplatz zum Verzehr von Glühwein und Christstollen gezwungen worden.
Die Beamten sind ratlos.
17:04 Uhr
Ein Sattelschlepper mit Süßwaren rammt ein mit Weihnachtsmännern vom studentischen Nikolausdienst vollbesetztes Taxi. Zehntausende von Marzipankugeln kullern durch die Fußgängerzone.
17:23 Uhr
KAUFHOF, DANY und KLINGENTHAL beschießen die Fußgängerzone mit Schneekanonen.
18:02 Uhr
Teile der Innenstadt sind unpassierbar.
18:07 Uhr
Helga Z. erschießt Burkhard F. und klettert anschließend in eine der Schneekanonen.
Die alarmierte Polizei kann sich nur mühsam den Weg durch hunderte von Dolly Buster Nikoläusinnen bahnen.
18:13 Uhr
Der Notarzt kann Burkhard F. retten. Zäher Bursche. (Der Notarzt)
18:21 Uhr
Feuerwehr und Bundesgrenzschutz beginnen mit der Bergung Eingeschlossener. Das Hubschraubergetöse übertönt sogar die Wildecker Herzbuben.
18:44 Uhr
Der erste Leopard II Panzer fährt durch die Fußgängerzone.
Die Panzerbesatzung stoppt, als sie Helga Z. sieht, die sich inzwischen sämtlicher Kleider entledigt hat und eine Schneekanone auf sie richtet. Dem Kommandanten wird schlagartig klar, daß dies nicht mehr der Truppenübungsplatz sein kann.
18:47 Uhr
Nach einem undeutlich aufzunehmenden Funkspruch von der Leitstelle fällt Helga Z. in die Kategorie "Biologische Waffen". Die Panzerbesatzung ist ratlos.
18:51 Uhr
Verteidigungsminister S. stellt sich in Berlin der hastig einberufenen Bundespressekonferenz.
18:56 Uhr
Der ehemalige Kanzler Helmut K. wird während eines Abschieds-Banketts mit japanischen Investoren von den schwerwiegenden Vorgängen in Westfalen unterrichtet. Er verlangt nach etwas mehr Soße.
18:57 Uhr
Der amtierende Kanzler, Gerhard S., läßt sich in einem RTL-Interview nach drängenden Fragen von Heiner B. hinreißen zu der Erklärung: "Nein, dieses wird keine andere Republik, sie wird nur mehr nach Marzipan riechen".
19:27 Uhr
Das Europaparlament einigt sich nach einem fraktionsübergreifenden Antrag auf die Ächtung von Schneekanonen.
19:33 Uhr
Der Autor dieser Zeilen hat wieder einen Grinskrampf und kann nicht mehr weiterschreiben
Munter bleiben...
Frohe Weihnachten
